Es kommt vor, dass ein Muslim aus Wut oder Eifersucht einen Schwur leistet, eine gute Tat zu unterlassen oder jemandem seine Rechte vorzuenthalten, aber dann vergeht sein Zorn und er möchte doch das Gute tun. Als Gesetzgeber schreibt Allâh der Allmächtige einen Ausweg vor, damit er seinen Schwur zurücknehmen, das Gute tun und sich für das Bessere und Vorteilhaftere entscheiden kann. Das liegt daran, dass die islâmische Scharîa das Ziel verfolgt, Gutes zu ermöglichen, und die Menschen dazu anregt, sich für die besten und tugendhaftesten Lösungen zu entscheiden und es zu vermeiden, Schwüre als Vorwand dafür zu nehmen, weiterhin das zu tun, was nicht richtig ist.
In Sahîh Muslim wird in Anlehnung an Abû Huraira (möge Allâh mit ihm zufrieden sein) überliefert, dass ein Mann bis spät in die Nacht beim Propheten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) saß und dann nach Hause ging. Seine Kinder waren bereits eingeschlafen. Seine Frau servierte ihm Essen, aber er leistete einen Schwur, dass er wegen seiner Kinder (die ohne Essen eingeschlafen waren) nichts essen würde. Daraufhin überlegte er es sich noch einmal und beschloss doch zu essen. Später ging er zum Gesandten Allâhs (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) und erzählte ihm davon. Der Prophet (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) sagte: „Wer einen Schwur leistet und dann etwas sieht, das besser ist, so soll er das tun, was besser ist, und für den (Bruch) seines Schwurs Sühne leisten.“
An-Nawawî (Allâh erbarme sich seiner) sagte in Scharhu Muslim: „Dieser Hadîth zeigt Folgendes: Wenn jemand schwört, etwas zu tun oder nicht zu tun, aber das Brechen seines Schwurs besser ist als die Erfüllung des Schwurs, dann wird ihm angeraten, den Schwur zu brechen und die entsprechende Sühne zu leisten. Darüber herrscht Konsens.“
Wann ist jemand, der einen Schwur geleistet hat, zur Sühne verpflichtet?
Es gibt drei Fälle für die Wiedergutmachung im Hinblick auf den Zeitpunkt, zu dem sie fällig wird, und auf ihre Angemessenheit zur Tilgung der Schuld:
Erstens: Die Sühneleistung erfolgt, bevor man den Schwur ablegt – dies reicht nicht aus, um die Pflicht zu erfüllen.
Zweitens: Die Sühneleistung erfolgt, nachdem man den Schwur abgelegt und ihn gebrochen hat – dies ist ausreichend, um die Pflicht zu erfüllen.
Drittens: Die Sühneleistung erfolgt, nachdem der Schwur abgelegt wurde, aber bevor er gebrochen wird. Ist dies im Hinblick auf die Pflichterfüllung ausreichend oder nicht?
Laut An-Nawawî (Allâh erbarme sich seiner) hielt die Mehrheit der muslimischen Rechtsgelehrten dies für zulässig. Sie sagten jedoch, es sei empfehlenswert, dies nach dem Brechen des Schwurs zu leisten. As-Schâfi'i (Allâh erbarme sich seiner) schloss die Sühne durch Fasten aus und sagte, dass es nicht zulässig sei, vor dem Brechen des Schwurs zu fasten, da das Fasten ein körperlicher Akt der Anbetung sei und es daher nicht erlaubt sei, es vor seiner Fälligkeit durchzuführen, ähnlich wie das Gebet und das Fasten im Monat Ramadân. Was die finanzielle Wiedergutmachung anbelangt, so ist es zulässig, sie vor ihrer Fälligkeit zu bezahlen, ebenso wie es gestattet ist, Zakâ im Voraus zu bezahlen.“
Der Grund für die Meinungsverschiedenheit der Gelehrten über die Zulässigkeit der Sühneleistung vor dem Bruch des Schwurs liegt in den verschiedenen Varianten des entsprechenden Hadîth, in denen manche von der Sühneleistung vor dem Bruch des Schwurs und andere von der Sühneleistung nach dem Bruch des Schwurs berichten. Eine Version lautet zum Beispiel: „Wer einen Schwur leistet und dann etwas sieht, was besser ist, so soll er für den (Bruch) seines Schwurs Sühne leisten und das tun, was besser ist.“ In dieser Version kommt die Sühneleistung vor dem Brechen des Schwurs. In einer anderen Version heißt es: „Wer einen Schwur leistet und dann etwas sieht, was besser ist, so soll er das tun, was besser ist, und für den (Bruch) seines Schwurs Sühne leisten.“ In dieser Version wird die Sühneleistung nach dem Brechen des Schwurs erwähnt. Beide Varianten kommen in Sahîh Muslim vor.
Al-Qadî Iyâd (Allâh erbarme sich seiner) sagte: „Aufgrund der unterschiedlichen Formulierungen dieser Überlieferung vertraten die Gelehrten – Allâh erbarme sich ihrer – unterschiedliche Ansichten über die Gültigkeit der Sühne, wenn sie vor dem Brechen des Schwurs geleistet wurde. Sie waren sich jedoch einig, dass sie erst nach dem Brechen des Schwurs zu leisten ist und dass es zulässig ist, die Sühneleistung nach dem Brechen des Schwurs zu verschieben.“
Die Hanafi-Gelehrten waren der Ansicht, dass die Sühne nicht vor dem Brechen des Schwurs geleistet werden kann. Sie widersprachen der Argumentation, die auf jener Version des Hadîth beruht, dass die Sühne vor dem Brechen des Schwurs geleistet werden kann. Sie begründeten dies damit, dass in dieser Fassung des Hadîth das Verbindungswort „und“ keine Reihenfolge impliziert. Sie sagten: „Wenn jemand, der einen Schwur abgelegt hat, die Sühne leistet, bevor er den Schwur bricht, so leistet er sie eigentlich, bevor sie fällig wird, und folglich wird sie als eine freiwillige Handlung der Anbetung angesehen, die nicht ausreicht, um seine Schuld zu tilgen.“
Von dieser Überlieferung wird geschlussfolgert, dass jemand, der einen Schwur ablegt, die möglichen Folgen der Erfüllung seines Schwurs mit denen des Brechens und der Sühne vergleichen muss, und er wählt dementsprechend aus, was besser und näher am Guten ist. Ibn Hadschar (Allâh erbarme sich seiner) sagte: „As-Schâfi'i benutzte diese Überlieferung als Beleg dafür, dass jemand, der einen Schwur ablegt, das tun sollte, was von den beiden Optionen besser ist, nämlich den Schwur entweder zu erfüllen oder ihn zu brechen und die Sühne zu leisten.“