Abdullâh ibn Abbâs war nicht damit zufrieden Wissen anzuhäufen. Er empfand, dass er der Umma gegenüber die Pflicht hatte, diejenigen zu lehren, die nach Wissen strebten, und die Massen der muslimischen Gemeinschaft. Er wandte sich dem Lehren zu und sein Haus wurde eine Universität – jawohl, eine Universität im wahrsten Sinne des Wortes, eine Universität mit spezialisierten Lehrgängen, nur mit dem Unterschied, dass es nur einen Lehrer gab – Abdullâh ibn Abbâs . Die Menschen reagierten begeistert auf Abdullâhs Unterricht. Einer seiner Gefährten beschrieb eine typische Szene vor seinem Haus: „Ich sah, wie Leute auf den Straßen, die zu seinem Haus führten, zusammenströmten, bis es kaum noch Platz vor seinem Haus gab. Ich ging hinein und benachrichtigte ihn über die Menschenmengen von seiner Tür, und er sagte: „Bring mir Wasser für die rituelle Gebetswaschung!“ Er verrichtete die Waschung, setzte sich und sagte: „Geh und sag ihnen: Wer immer über den Qurân und dessen Buchstaben fragen will, soll hereinkommen!“ Ich tat dies, und die Leute traten ein, bis das Haus gefüllt war. Was immer er gefragt wurde, Abdullâh konnte es erklären und konnte sogar zusätzliche Informationen zu dem geben, über das er gefragt worden war. Dann sagte er: „Macht Platz für eure Brüder!“ Dann sagte er zu mir: „Geh hinaus und sag: Wer über den Qurân und dessen Interpretation fragen will, soll hereinkommen.“ Und wieder war das Haus gefüllt, und Abdullâh erläuterte und gab mehr Informationen als verlangt.“ Und so ging es weiter mit Gruppen von Leuten, die kamen um Rechtswissenschaft, halâl und harâm, Erbschaftsgesetze, die arabische Sprache, Dichtkunst und Etymologie zu disputieren.
Um eine Überfüllung durch die vielen kommenden Gruppen zu verhindern – einige kamen um verschiedene Themen an einem Tag zu disputieren –, entschied Abdullâh , einen Tag nur einem bestimmten Thema zu widmen. An einem Tag wurde nur Qurân-Exegese gelehrt, während an einem anderen Tag nur islamische Rechtslehre unterrichtet wurde. Den Feldzügen des Propheten , der Dichtkunst und der arabischen Geschichte vor dem Islâm wurde ebenfalls ein spezieller Tag zugewiesen.
Abdullâh ibn Abbâs brachte ein starkes Gedächtnis und einen ausgezeichneten Intellekt zu seinen Unterrichten mit. Seine Erklärungen waren präzise, klar und logisch. Seine Argumente waren überzeugend und wurden durch entsprechende Quellentext-Beweise und geschichtliche Fakten unterstützt.
Ein Anlass, zu dem seine ausgezeichnete Überzeugungskraft zu Nutzen kam, war die Zeit des Kalifates Alîs . Eine große Menge der Unterstützer Alîs (in dessen Position hinsichtlich Mu‘âwiya ) hatte ihn gerade verlassen. Abdullâh ibn Abbâs ging zu Alî und bat um Erlaubnis, zu ihnen sprechen zu dürfen. Alî zögerte, aus Furcht, dass er sich in Gefahr begeben würde, aber er gab schließlich wegen Abdullâhs Optimismus nach, dass nichts Schlimmes passieren würde.
Abdullâh ging zur Gruppe hinüber. Sie waren in Anbetung vertieft. Manche waren nicht bereit ihn sprechen zu lassen, aber Andere waren bereit ihm zuzuhören.
„Sagt mir“, fragte Abdullâh , „welche Missstände habt ihr gegen den Cousin des Propheten, den Ehemann dessen Tochter und den ersten derjenigen, die an ihn glaubten, vorzubringen?“
Die Männer brachten drei Hauptbeschwerden gegen Alî vor. Erstens, dass er Männer ernannte um Urteile zu fällen, die die Religion Allâhs betreffen – das heißt, dass Alî der Schlichtung von Abû Mûsâ Al-Asch‘arî und Amr ibn Al-Âs im Meinungsstreit mit Mu‘âwiya zustimmte. Zweitens, dass er kämpfte, aber keine Beute oder Kriegsgefangenen nahm. Drittens, dass er während des Schlichtungsprozesses nicht auf dem Titel Amir Al-Muminîn (Fürst der Gläubigen) bestand, obwohl die Muslime ihm die Untertanentreue geschworen hatten und er ihr rechtmäßiger Befehlshaber war.
Für sie war das ein offensichtliches Zeichen seiner Schwäche und ein Zeichen, dass Alî bereit war seine rechtmäßige Position als Fürst der Gläubigen in Verruf zu bringen. Als Antwort fragte Abdullâh , ob sie, wenn er Verse des Qurân und Aussagen des Propheten zitieren werde, auf Grund derer sie keine Einwände hätten und die auf ihre Kritik bezogen sind, bereit wären ihre Position zu ändern.
Sie antworteten, dass sie bereit wären, und Abdullâh fuhr wie folgt fort: „Hinsichtlich eurer Aussage, dass Alî Männer bestimmte um ein Urteil in Allâhs Religion zu fällen, sagt Allâh der Makellose und Erhabene: „O ihr, die den Glauben verinnerlichen, tötet nicht das Jagdwild, während ihr im Zustand der Pilgerweihe seid! Und wer es von euch vorsätzlich tötet, so ist die Vergeltung Gleichwertiges an Vieh für das, was er tötete, was zwei Redliche unter euch beurteilen – ...“ (Sûra 5:95)
„Ich schwöre vor euch bei Allâh! Hat das Urteil von Männern hinsichtlich der Bewahrung deren Blutes und deren Lebens und dem Stiften von Frieden zwischen ihnen es mehr verdient beachtet zu werden als das Urteil über einen Hasen, dessen Wert nur ein Viertel eines Dirham beträgt?“ Ihre Antwort war natürlich dass die Schlichtung im Fall des Bewahrens muslimischen Lebens und Stiftens von Frieden zwischen ihnen wichtiger ist als das Töten eines Wildes in den sakrosankten Bezirken, für das Allâh das Schlichten von Männern erlaubte. „Sind wir also mit diesem Punkt fertig?“, fragte Abdullâh, und ihre Antwort war „Bei Allâh, ja!“ Abdullâh fuhr fort: „Hinsichtlich eurer Aussage, dass Alî kämpfte und keine Kriegsgefangenen nahm, wie der Prophet dies tat, so frage ich euch, ob ihr euch wirklich wünscht, eure Mutter Âischa als Gefangene zu nehmen und sie wie Freiwild zu behandeln, so wie Gefangene behandelt werden? Wenn eure Antwort „Ja“ ist, dann seid ihr dem Unglauben verfallen. Und wenn ihr sagt, dass sie nicht eure „Mutter“ ist, dann seid ihr auch in einen Zustand des Unglaubens gefallen, weil Allâh der Makellose und Erhabene sagt: „Der Prophet steht den Gläubigen näher als sie sich selbst, und seine Gattinnen sind deren Mütter.“ (Sûra 33:6)
„Sucht euch selbst aus, was ihr wollt.“, sagte Abdullâh und fragte dann: „Sind wir mit diesem Punkt fertig?“ Und wieder war die Antwort „Bei Allâh, ja!“ Abdullâh fuhr fort: „Hinsichtlich eurer Aussage, dass Alî den Titel Amir Al-Muminîn aufgegeben hat: Erinnert ihr euch, dass der Prophet selbst in der Zeit von Hudaibiyya von den Götzendienern verlangte, dass sie in den Waffenruhe-Vertrag, den er mit ihnen schloss, schreiben „Dies ist es, was der Gesandte Allâhs vereinbarte...“ und sie erwiderten: „Wenn wir glauben würden dass du der Gesandte Allâhs bist, hätten wir weder deinen Weg zur Ka‘ba blockiert noch dich bekämpft. Schreibe stattdessen: „Muhammad, der Sohn des Abdullâh.“ Der Prophet willigte in ihre Forderung ein und sagte: „Bei Allâh, ich bin der Gesandte Allâhs, selbst wenn sie mich ablehnen.“ Dann fragte Abdullâh ibn Abbâs die Dissidenten: „Sind wir also mit diesem Punkt fertig?“ Und ihre Antwort war nochmals: „Bei Allâh, ja!“
Eine der Früchte dieser verbalen Herausforderung, in der Abdullâh sein gründliches Wissen des Qurân und der Lebensgeschichte des Propheten darlegte, sowie seiner bemerkenswerten Argumentations- und Überzeugungskünste bestand darin, dass die Mehrheit, ungefähr zwanzigtausend Männer, in die Reihen Alîs zurückkehrte. Ungefähr viertausend blieben stur. Diese wurden später als die Châridschiten (Abweichler) bekannt.
Bei dieser und bei anderen Gelegenheiten zeigte der mutige Abdullâh, dass er Frieden dem Krieg und Logik der Kraft und der Gewalt vorzog. Jedoch war er nicht nur für seinen Mut, sein weitsichtiges Denken und sein gewaltiges Wissen bekannt. Er war auch für seine enorme Großzügigkeit und Gastfreundlichkeit bekannt. Manche seiner Zeitgenossen sagten über seinen Haushalt: „Wir haben kein Haus gesehen, das mehr Essen oder Trinken oder Früchte oder Wissen hatte, als das Haus von Ibn Abbâs.“ Er zeigte eine echte und beständige Sorge um die Menschen. Er war nachdenklich und fürsorglich. Er sagte einmal: „Wenn ich die Wichtigkeit eines Verses im Buche Allâhs realisiere, wünsche ich mir, dass alle Leute wüssten, was ich weiß. Wenn ich von einem muslimischen Herrscher höre, der gerecht handelt und gerecht herrscht, freue ich mich für ihn und bete für ihn... Wenn ich von Regenfällen höre, die auf die Gebiete der Muslime fallen, erfüllt es mich mit Freude...“
Abdullâh ibn Abbâs war beständig in seinen Anbetungshandlungen. Er fastete regelmäßig und blieb oft zum rituellen Gebet in der Nacht wach. Er pflegte zu weinen, wenn er betete und den Qurân las. Und wenn er Verse rezitierte, die vom Tod, von der Auferstehung und vom Jenseits handelten, wurde seine Stimme schwer vom tiefen Schluchzen. Er verstarb im Alter von 71 Jahren in der Gebirgsstadt Tâif.